Mittwoch, 22. März 2017

Borderline - und nach aussen alles normal!

"Vor drei Jahren war ich bereit, mein Leben zu beenden. Ich hatte lange darüber nachgedacht und war zum Schluss gekommen, dass ich kein Anrecht auf Leben habe. Ich informierte mich, welche Suizidmethode die grösstmögliche Sicherheit auf Erfolg bringe. Ich informierte mich gründlich", schreibt Sanny Regen in Diverse Töne Rot; Borderline – und nach aussen alles normal! Das Semikolon im Titel hat seinen guten Grund: "Das Semikolon vereint die Trennung zum Bisherigen mit dem Fortführen des Eigentlichen. So wurde dieses Satzzeichen zum Symbol der bewussten Lebensführung aller psychisch Erkrankten."

Schwer zu sagen, was Sanny Regen letztlich davon abhielt, sich nicht umzubringen. Was wissen wir schon über unsere Motivationen? Ja, was können wir diesbezüglich schon wissen? Doch werden wir praktisch: Am Tage, als sich Sanny das Leben nehmen wollte, befand sie sich stationär in einer psychiatrischen Einrichtung. Eine Bezugspflegerin sah ihr an, was sie vorhatte. Und erzählte ihr, "was danach passiert, dann, wenn die Angehörigen davon erfahren. Wenn diese nicht verstehen können, wie ein für sie so wertvoller Mensch gehen konnte."

Diverse Töne Rot; Borderline – und nach aussen alles normal! erzählt einerseits vom brutalen, schwer erträglichen Aufwachsen in einem Elternhaus fern jeder Normalität und andererseits von Sannys Umgang mit ihrer Borderline-Krankheit. Kann/soll sie ihrem Freund offenbaren, was wirklich in ihr vorgeht? Ihm, der sich doch bereits von ihr abgestossen fühlt, wenn er nur mit der winzigen Spitze des Eisbergs konfrontiert wird? Mit diesem Buch hat sie es gewagt  –  mit ihrem Freund ist sie immer noch zusammen.

Sie hat Gewaltphantasien, stellt sich vor, wie sie fremde Menschen vor ein Auto schubst, wie sie einem Mann von hinten ein Messer in den Nacken stösst. "Ich bin ein Psycho! Meine Diagnosen haben Namen wie Bulimia Nervosa, bipolare Störung, posttraumatische Belastungsstörung und Borderline-Persönlichkeitsstörung. Im Prinzip bin ich eine wandelnde Störung."

Ihre Ehrlichkeit imponiert, ihre Bestimmtheit ebenso. "Auch wenn die Ärzte sagen, dass man Borderline hat und nicht ist, kann ich mit ganzer Überzeugung sagen, dass ich eine bin. Ob dies nun Veranlagung ist oder nicht, kann mir bis heute kein Therapeut sagen. Dabei ist doch allen klar, dass dies alles bei mir zutrifft."

Borderline zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass die Emotionen der davon Betroffenen oft verrückt spielen und nicht reguliert werden können. Das zeigt sich etwa in extremen und für Aussenstehende völlig unangemessenen Wutanfällen. Es kann sich auch in Selbstverletzungen äussern. "Dass viele (nicht alle) Borderliner sich verletzen, ist das erste, das Nicht-Borderliner erfahren. Danach möchten die wenigsten Weiteres über diese Krankheit wissen."

Damit es nicht dabei bleibt, braucht es Aufklärung. Die wichtigste kommt von den Borderlinern selber, denn sie kennen aus eigener Erfahrung, was "Experten" meist nur aus zweiter Hand wissen und manchmal nicht der Realität, sondern ihrem Raster gemäss interpretieren  –  etwa als die kleine Sanny auf Geheiss ihres Vaters lügt. "Heute sagen mir meine Therapeuten, dass ich aus Angst gehandelt habe, aber in kann dieses Gefühl in meiner Erinnerung einfach nicht finden. Da ist keine Angst, sondern nur die Selbstverständlichkeit, meinem Vater zu gehorchen. Ich hatte weder Angst noch den Weitblick, seine Aussage in Frage zu stellen, und so wusste ich genau, was zu tun war."

Diverse Töne Rot; Borderline – und nach aussen alles normal! ist ein aufwühlendes Buch, das einem die heftige Gefühlswelt von Borderlinern nicht nur nahe bringt, sondern einem klar macht, dass Borderliner durch die Hölle gehen. Sie seien emotionale Brandopfer, hat Marsha Linehan einmal geschrieben. Sanny Regens Schilderungen illustrieren dies höchst eindrücklich  – es ist unfassbar, was sie alles hat über sich ergehen lassen und aushalten müssen. Sie ist eine aussergewöhnlich starke Frau.

"Ich hasse mich. Ich hasse mich, weil ich mich nicht verstehe und jemand anderen, der so wäre wie ich, auch nicht leiden könnte. Einem Fremden kann man jedoch aus dem Weg gehen, bei mir selber ist das unmöglich. Warum schaffe ich es nicht, meinem Freund zu sagen, wie ich empfinde, so, dass es auch bei ihm ankommt? Warum muss ich immer weinen und kann nicht ruhig bleiben? Warum kann ich mich nicht darüber freuen, heute nicht gegen eine Wand geschlagen zu haben, obwohl der Impuls da war? Stattdessen mache ich mir Vorwürfe, meinen Freund mit meinen Aussagen, die der Wahrheit entsprechen, getroffen zu haben."

Veränderung braucht Mut. Sie beginnt mit dem Akzeptieren dessen, was ist. Voraussetzung dafür ist die Konfrontation mit dem, was gewesen ist. Und mit der Gegenwart. Was das konkret heisst, zeigt  Diverse Töne Rot; Borderline – und nach aussen alles normal! bewegend und eindrucksvoll.

So bewundernswert aufrichtig Sanny Regens Aufzeichnungen sind, sie zeugen auch von einem schonungslosen Umgang mit sich selber. Sie lernt zur Zeit, dass es auch anders geht. "Heute denke ich nicht mehr ständig an meine Vergangenheit oder an meinen Tod. Ich suche die Schuld nicht immer nur bei mir und empfinde erstmals wieder Freude daran, anderen Gutes zu tun." Nur weiter so!

Sanny Regen
Diverse Töne Rot;
Borderline – und nach aussen alles normal!
Starks-Sture Verlag, München 2017

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