Mittwoch, 25. Oktober 2017

CLEAN: Sucht verstehen und überwinden

"Ein revolutionärer Erklärungsansatz und neue Chancen für die Therapie", verspricht der Untertitel von CLEAN: Sucht verstehen und überwinden und natürlich bin ich skeptisch, wenn der behauptete revolutionäre Erklärungsansatz dann auch noch auf der New York Times-Bestsellerliste landet, denn die New York Times und ihre Leser sind eher dem Bewahren (dem Establishment) und weniger der Revolution zuzurechnen.

Neugierig machte mich hingegen die Autorin, denn diese war früher selbst heroin- und kokainabhängig – und für Menschen, die ihre eigene Sucht zum Stillstand gebracht haben, habe ich ein offenes Ohr. Zudem: CLEAN: Sucht verstehen und überwinden erzählt nicht einfach die Geschichte von Maia Szalavitz, sondern berichtet auch von vielfältigen Erkenntnissen aus mehr als 25 Jahren Suchtforschung.

Wer versuche, Sucht präzise zu beschreiben, entdecke schnell, dass die meisten Erklärungen unwissenschaftlich seien, schreibt sie  mir selber ist solche Wissenschaftsgläubigkeit fremd. Maia Szalavitz versteht unter Sucht "ein fehlangepasstes Bewältigungsverhalten, das trotz andauernder negativer Folgen beibehalten wird" und führt aus: "Das Problem mit der heutigen Einstellung zur Sucht besteht darin, dass wir die Bedeutung des Lernens ignorieren und versuchen, die Sucht als medizinische Störung oder moralisches Versagen abzustempeln, obwohl das unpassend ist, und dass wir den runden Pflock ignorieren, den wir in das quadratische Loch getrieben haben."

Es ist beeindruckend, wie viel Wissen (nicht nur über Sucht, sondern über ganz viele seelische Schwierigkeiten) Maia Szalavitz zusammengetragen hat. So erfährt man unter anderem, dass es in Ungarn und Finnland mehr Depressive (inklusive hoher Suizidraten sowie viel Alkoholmissbrauch) gibt als anderswo, aus genetischen Gründen. Zudem ist ungemein berührend, wenn sie von ihrem eigenen Aufwachsen berichtet. "Das Wort 'intensiv' beschrieb nicht nur äusserst genau, wie ich die Welt wahrnahm; es war zudem eines der Adjektive, die andere am häufigsten benutzten, um mich oder mein Verhalten zu beschreiben. Als Teenager kämpfte ich ständig um mehr Lockerheit."

In den USA bildet das 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker (AA) den Kern der Therapie der meisten Drogenprogramme. Obwohl die 12-Schritte, die Maia Szalavitz als christliche Suchttherapie charakterisiert, ihr halfen, die ersten fünf Jahre ihrer Genesung durchzustehen, ist sie keine Befürworterin des Programms. "Es gefiel mir nicht, dass Menschen gezwungen wurden, 'ganz unten' zu landen, und dass Moral und Medizin vermischt wurden." Nun ja, die Lösung findet sich im AA-Spruch, den sie auch selber zitiert: "Nimm, was dir gefällt, und lass den Rest liegen."

CLEAN: Sucht verstehen und überwinden richtet sich hauptsächlich an nordamerikanische Leser, denn nur dort gibt es die institutionalisierte 12-Schritte-Therapie, zu der auch Straftäter von Richtern verdonnert werden können. Solcher Zwang dürfe weder Mittelpunkt des Entzugs noch Teil einer professionellen Behandlung sein, meint die Autorin. Recht hat sie, obwohl man sich fragen kann, weshalb denn Zwang einen so ausschliesslich schlechten Ruf hat  ohne inneren oder äusseren Druck (das verstehe ich unter Zwang) wird wohl kaum jemand sein Verhalten ändern.

Maia Szalavitz' Hochachtung vor Studien und Experten, die das ganze Buch durchzieht, finde ich befremdlich. "Niemand würde einem Gehirnchirurgen trauen, dessen einzige 'Ausbildung' darin bestand, dass ihm ein Tumor entfernt wurde. Ebenso dürfen wir nicht glauben, dass ein ehemaliger Süchtiger ein Experte ist." Derart Äpfel mit Birnen zu vermischen (eine Operation, die auch ausgeprägte handwerkliche Fähigkeiten verlangt, ist wohl kaum mit einem Beratungsgespräch zu vergleichen), ist schon recht abstrus, nicht zuletzt, da die Autorin selber mit Hilfe ehemaliger Süchtiger genesen ist. Auch scheint sie die Medizin für eine Wissenschaft zu halten, doch obwohl diese mit wissenschaftlichen Methoden arbeitet, ist sie es nicht (siehe auch: Gesetze der Medizin).

CLEAN: Sucht verstehen und überwinden wehrt sich gegen Stigmatisierung und plädiert für neurologische Vielfalt. Neurologische Unterschiede, die etwa zu Autismus oder anderen diagnostizierbaren 'Störungen' führen, verdienen genauso unseren Respekt wie alle anderen Unterschiede zwischen Menschen. "Wenn wir das Verlangen und den Drang, die bei Süchtigen fehlgeleitet werden, in die richtige Richtung lenken, sind die Ergebnisse erstaunlich."

Maia Szalavitz
CLEAN: Sucht verstehen und überwinden
Ein revolutionärer Erklärungsansatz
und neue Chancen für die Therapie
mvgverlag, München 2017.

Mittwoch, 18. Oktober 2017

"Heute setz ich mir den Todesschuss"

Sieberts haben einen Sohn, der ihnen Ehre macht, und einen, der für den Vater "auf deutsch gesagt: gestrauchelt ist". Als eine erträgliche Balance können Sieberts das nicht empfinden. Herr Siebert hat als Kabelverleger in Postschächten angefangen und wurde dann Beamter im Telegraphenamt.

Sein durch diese Steigerung angehobenes Selbstgefühl und das Behagen an seinem Ältesten, der Medizin studiert, sind versickert in dem Kummer um Manfred. Manfred, der Manni genannt wird und in den Erzählungen seiner Mutter "mein Jenner" heißt, ist heroinsüchtig.

Sieberts wohnen jetzt im Kadettenweg in Berlin-Lichterfelde. Aus der Afrikanischen Straße im Wedding sind sie weggezogen, weil sie sich wegen Manni schämten. Anfang der Siebziger, sagt der Vater, gab's ja noch kein Massensterben in den U-Bahn-Toiletten, da stand noch nicht der Tote des Tages in der BZ.

Manni, fanden seine Eltern, war als Schande einzig. "Herr Siebert", haben welche aus dem Haus gesagt, "so 'n Neubau hat Ohren, wie wär's denn mit Dämmplatten?" Der Manni, sagt Siebert, hat ja infernalisch kotzen müssen. Der ist laut gestorben; und damit er nicht wegmacht, haben wir die Feuerwehr gerufen. Und die Feuerwehr hat sich ihre Wichtigkeit auch nicht nehmen lassen. Die machte aus dem Retten eine Veranstaltung, welche Zuschauer anzieht, damit sie die vertreiben kann.

Wenn der Manni die Etagen runtergetragen wurde, waren die Wohnungstüren schon um jenen Spalt geöffnet, den das eingeklinkte zweite oder dritte Glied der Sicherungskette noch so diskret macht wie ein Astloch.

Einmal, als die Trage auf die Schiene des Feuerwehrwagens gesetzt wurde, schrie jemand aus einem unerleuchteten Parterrefenster: "Schade um jede Mark, die der Staat für deine Erhaltung ausgibt!"

Frau Siebert glaubte, die Katastrophe sei ihr auf die Stirn geschrieben. Sie fühlte sich immer zwischen einem Spalier aus Blicken. Sie geriet in einen Beziehungswahn, in dem jedes Wort, welches die Kassiererin von Bolle mit einer Kundin wechselte, von Manni handelte. Frau Siebert mied dann die angestammten Läden in den umliegenden Blocks. Für ein Brot fuhr sie schließlich zwei Stationen mit der U-Bahn.

Einer von Frau Sieberts Brüdern ist mit zwanzig in Rußland gefallen. Ihre Mutter habe dessen Sterben bildlich immer vor sich gehabt. Sie habe Jahre später plötzlich beim Sonntagskaffee noch geweint, weil sie den Jungen liegen sah. Damals sind aber viele so geendet, sagt Frau Siebert, das war ja Krieg für alle. Das waren Mütter von Soldaten, was für Frau Siebert ein schuldfreies Unglück ist. Es ist ein Unglück, mit dem Frau Siebert manchmal würde tauschen wollen, obwohl Manfred Siebert nicht gestorben ist, sondern über sieben Jahre dem Tod nur öfters nahe war.

Die Fortsetzung findet sich hier

Mittwoch, 11. Oktober 2017

Innehalten

So recht eigentlich sagt der Titel "Innehalten" schon alles, denkt es so in mir, bevor ich das Buch überhaupt aufgeschlagen habe, und bin dann positiv überrascht, wie viel man dazu noch sagen kann.

Von Martin Heidegger habe ich einmal gelesen, dass er darüber gestaunt habe, dass es tatsächlich etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Daran fühlte ich mich erinnert, als ich bei Fleur Sakura Wöss auf diese Sätze stiess: "... dass das Konkrete, Materielle, das, was ist, nur eine Seite darstellt. Das, was nicht ist, kann jedoch genauso wichtig, manchmal sogar wichtiger sein. Heute, in der Zeit des 'Alles ist möglich', sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir für unser Überleben dem Leeren und den Zwischenräumen unsere Aufmerksamkeit schenken sollten. Wir brauchen eine Revolution der Leere."

Warum können wir so schwer innehalten?, fragt die Autorin. Es ist dies keine abstrakte Frage, sie stellt sie sich selber, denn sie tanzt auf allen Hochzeiten, funktioniert, macht Karriere, ist vom selben Anerkennungsbedürfnis getrieben wie wir alle. "Ich konnte nicht mehr stehen bleiben. Irgendwo sind mir die Zwischenräume abhanden gekommen, in denen ich Zeit gehabt hätte, mich zu fragen: 'Werde ich von meinen Bildern und Vorstellungen getrieben, und habe ich tatsächlich noch die Zügel in der Hand?'"

"Immer wieder innehalten: täglich, wöchentlich, jährlich, lebenslang" ist ein Kapitel überschreiben und das fasst so recht eigentlich zusammen, worum es in diesem Buch geht. Fleur Sakura Wöss führt diesen Gedanken an ganz vielen konkreten Beispielen aus. Die Anleitungen reichen von "Einmal um den Block gehen" über "Büro-Yoga" zu "Eine Woche 'Almhütte'", zu der sie notiert:

"Ich hatte kein Programm und keinen Plan, und doch hatte mein Tag eine Form. Ich sass im Schaukelstuhl und sah stundenlang in die Natur hinaus. Es entwickelte sich ein Gefühl des Bei-mir-Seins, des Im-Moment-Seins, einer tiefen inneren Stille, die durchwegs eine Art Meditation war – 24 Stunden lang. Aus dem Nichtstun hatte sich ein vollkommen anderes Lebensgefühl gebildet. Ich überliess mich völlig dem Moment und dem, was sich von selbst anbot."

Was Fleur Sakura Wöss hier beschreibt, ist so recht eigentlich das Gegenteil des hyper-aktiven Lebens, das unsere Zeit kennzeichnet. Keine Karriereziele sind hier gefragt, niemand muss wissen, wo er sich in fünf Jahren sieht, nur die Gegenwart gilt es zu erfahren.

Es geht nicht um Spektakuläres in diesem Buch, es geht um Alltägliches. Den wahren Rhythmus wiederzufinden, zum Beispiel, wozu gehört, Pausen zu machen. Doch was offensichtlich scheinen mag, ist vielen Menschen eben doch nicht wirklich klar. "Gerade Menschen in der Wirtschaft, die an Schaltstellen sitzen und für das (Arbeits-)Leben vieler Menschen verantwortlich sind, sollten zuerst ihr eigenes Leben in den Griff bekommen."

Das scheint mir allerdings etwas arg idealistisch gedacht. Sicher, das Coaching von Führungskräften ist in Mode und auch populär, doch Manager, die ihr eigenes Leben im Griff haben, funktionieren nicht mehr so gierig und rücksichtslos wie Manager im kapitalistischen System eben zu funktionieren haben. Zugespitzt gesagt: Zen zu üben (oder zu unterrichten), um des wirtschaftlichen Erfolges Willen, verkennt, worum es im Zen geht.

Nichtsdestotrotz: Innehalten ist ein gelungenes und hilfreiches Buch, reich an praktischen Hinweisen, die uns anleiten, gegenwärtiger und damit wesentlicher zu werden. 

Fleur Sakura Wöss
Innehalten
Zen üben, Atem holen, Kraft schöpfen
Kösel Verlag, München 2017.

Mittwoch, 4. Oktober 2017

Eine gleichgültige Gegenwart ertragen

Gewiß, du hast recht, Bester, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht – Gott weiß, warum sie so gemacht sind! – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurückzurufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.
Johann Wolfgang von Goethe
Die Leiden des jungen Werther